PERFEKTION 1

Der perfekte Auftritt

Ich erinnere mich an ein musikalisches Erlebnis, als ich durch die Straßen von Middelkerke einer kleinen Küstenstadt in Belgien ging.  An einem sonnigen Platz hörte ich Töne eines Harmoniums. Sie schallten  – leicht gedämpft –  aus einem unscheinbaren Haus an der Ecke. Ich näherte mich, lehnte mich an die Hauswand, genoss die wärmenden Sonnenstrahlen und lauschte den leicht melancholischen Klängen, die voll meine Stimmung trafen.  Dabei spielte der unbekannte Organist durchaus unbeholfen. Doch für mich war es ein grandioses Konzert.

  • Im Gegensatz dazu kommt mir ein Konzert von `Sting´ in Wiesbaden in den Sinn. Ein Künstler, den ich sehr schätze, der vor einigen tausend Zuschauern eine „perfekte“ Show lieferte, mich aber „nicht die Bohne“ erreichte. Die Töne waren fehlerlos und unterschieden sich kaum von dem, was man von CDs oder aus dem Radio kannte, aber ich empfand es als langweilig.
  • Perfektion kann sicherlich Bewunderung hervorrufen, kann aber auch ziemlich belanglos wirken. Ich denke an Zirkusakrobaten, die durch ihre Beifall heischende Gestik deutlich machen müssen, dass sie zum Teil schier unmenschliche Kunststücke vollführen können. Und trotzdem wirkt dabei selbst der Trommelwirbel aufgesetzt, weil sie ihre Akrobatik bis zum „Geht-nicht-mehr“ eingebimst haben und mit traumwandlerischer Sicherheit jede Schwierigkeit fast nebensächlich erscheinen lassen, so dass die Langeweile von hinten schon wieder durchlugt.
  • Zurück zur Musik: In einer Kritik zu einer CD von Leslie Feist heißt es: “Die technische Unvollkommenheit wird zum Programm. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist „Pleasure“ (Name der CD) ein spannendes Album.
  • Till Brönner, der deutsche Trompeter, ist weltweit bekannt für die Präzision seines Spiels. In einer Konzertkritik heißt es jedoch sinngemäß: „Trotz der ästhetischen Präzision flaute die Spannung etwas ab, weil unter der glänzenden Klangoberfläche allzu wenig emotionaler Zündstoff lag.“
  • Ein kurzer Dialog aus dem Spielfilm „Das Vorspiel“ mit Nina Hoss, die eine unerbittliche Musiklehrerin spielt. Als sie nach Hause kommt, hört ihr Mann gerade eine Konzertaufnahme. „Wer spielt da?“, fragt sie. „Das bist du.“, sagt ihr Mann. „Klingt irgendwie unfertig.“ „Das ist ja gerad das Schöne.“, entgegnet er.
  • 1960 als Jazz in Europa noch nicht weit verbreitet war, trat Ella Fitzgerald in Berlin auf. Bei dem Lied „Mack the knife“ vergaß sie mitten im Lied den Text. Ohne zu stocken improvisierte sie spielerisch mit Wörtern, die ihr spontan einfielen und landete mit ihrem Konzert einen Sensationserfolg.  Perfekt !?
  • Der ehemalige Stadtschreiber von Mainz, Peter Stamm, sagte in einem Interview auf die Frage: „Gibt es für sie den perfekten Roman?“ „Man muss kleine Störungen einbauen, Abweichungen vom Ideal einbauen, sonst wirkt es kalt. Das perfekte Nichtperfekte – genau darin besteht die Kunst.“
  • In der Fußgängerzone einer kleinen Stadt am Niederrhein erlebte ich ein etwa 13jähriges Mädchen,  das mutig vorm Kaufhof ihren Notenständer aufstellte, ihre Geige auspackte und anfing Lieder vom Blatt zu spielen. Möglicherweise hatte sie diese gerade im Unterricht gelernt. Sie tat dies mit großer Selbstverständlichkeit und einem bewundernswerten Mut. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass sie weit entfernt davon war ihr Instrument zu beherrschen. Vielleicht sogar deshalb war ich fasziniert. Mit offenem Mund hörte ich ihr zu. Ein guter Auftritt hat also nur bedingt mit technischer Meisterschaft zu tun.
  • Um einen perfekten Auftritt hinzulegen bedarf es also mehr als technischer Fähigkeiten. In gewissen Momenten sind sie sogar verzichtbar oder sogar störend. Einen perfekten Moment erwischte das Eislaufpaar Bruno Massot / Aljona Savchenko bei der Olympiade 2018 in Pjöngjang: https://www.eurosport.de/eiskunstlauf/pyeongchang/2018/olympia-die-gold-kur-von-savchenko-massot-2018-gansehaut-und-grosse-emotionen-nach-traumlauf_vid1450191/video.shtml

Hier passte alles zusammen: Die Harmonie des Paares, die technischen Fähigkeiten, die Hingabe an die Musik, das Publikum, die Atmosphäre im Stadion. Das Ergebnis waren magische fünf Minuten, die mir jedes Mal, wenn ich mir die Kür ansehe, Tränen in die Augen treiben. Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht, aber es lohnt sich den Clip anzuschauen. Das war die perfekte Kür.

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