Es geht auf den Wahlkampf zu, und wie immer stürzen sich die politischen Parteien auf das Thema „Bildung“. Überzeugende und nachhaltige Veränderungen des starren Systems `Schule´ sind dabei selten zustande gekommen.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Joe Weingarten besuchte vergangene Woche eine Kita in Hochstetten-Dhaun (Öffentlicher Anzeiger vom 31.07.2021). Unter anderem sagte er, dass es gute Argumente gäbe, Kitas zu Bildungseinrichtungen zu machen. Kindergärten und Kitas waren das eigentlich schon immer und Rheinland-Pfalz ist eines der wenigen Bundesländer, das die Kitas dem Bildungsministerium unterstellt hat. Welcher Bildungsbegriff liegt also hier bei Joe Weingarten zugrunde? Zusätzlich spricht er davon, dass die Idee, Kinder möglichst alle auf Grundschulniveau zu bringen, keiner in Abrede stelle. Ich habe die Befürchtung, er meint damit, dass die Kinder vor ihrer Einschulung schon das Alphabet aufsagen können, erste Grundrechnungsarten beherrschen und möglicherweise einen PC bedienen können. Leider wäre Joe Weingarten mit dieser Vorstellung nicht allein, und gerade deshalb sehe ich mich als Erzieher veranlasst, meine Sicht der Dinge kund zu tun:
Das allerwichtigste Bildungsziel in den Kitas ist es den Kindern zu ermöglichen, einen Platz in einer Gemeinschaft zu finden. In ihrer jeweiligen Gruppe haben die Kinder Gelegenheit sich auszuprobieren und zu sozialisieren. Wichtige Werte, Rituale, Sitten und Gebräuche können sie in der Zeit kennenlernen. Wenn sie bis zum Abschluss der Kita-Zeit in der Lage sind Freundschaften zu schließen, Geborgenheit in einer Gruppe zu finden, Freude am kreativen Umgang mit unterschiedlichen Materialien, mit Bewegung und Gesang erfahren haben und sich eine Neugier auf die Welt, von mir aus auch auf Buchstaben und Zahlen bewahrt haben, dann hat die jeweilige Kita ganze Arbeit geleistet und ist ihrem Bildungsauftrag gerecht geworden. Dies sind alles keine selbstverständlichen Dinge, die ein Kind ohne weiteres auch zu Hause erlernen würde. Unser gesellschaftliches Leben hat sich so entwickelt, dass viele Eltern (Alleinerziehende) neben der Aufgabe Geld zu verdienen, eher wenig Zeit für ihre Kinder haben. Gelegenheiten für die Kinder mit Gleichaltrigen draußen zu spielen, sind häufig sehr eingeschränkt oder werden eher selten genutzt. Bewegung und das Entwickeln eines breit gefächerten Bewegungsrepertoires kommt – auch durch die medialen Einflüsse – häufig zu kurz. Wer singt (u.a. elementar für die Sprachbildung) noch zu Hause?
Allerdings ist mit diesen kurz skizzierten Voraussetzungen immer noch nicht gewährleistet, dass sie als Grundschulkinder in der Lage sind im 45-Minutenrhythmus geduldig auf einem Stuhl zu sitzen, um konzentriert einer Lehrkraft zu lauschen.
Ein Vorschlag des Professor Dr. med. K. E. Ranke zu dieser Thematik zitiere ich hiermit aus seinem Buch von 1925 „Tägliche Schulfreiübungen!“:
„Was wir brauchen, ist die „freie“ Betätigung, die selbstgewählte Bewegung nach dem augenblicklichen inneren Drang, ausgelöst durch den eigenen Entschluss, ein wirkliches „freies Spiel aller Kräfte“. Initiative, Mut Entschlossenheit und Beharrlichkeit müssen sich entwickeln können. Sie entwickeln sich niemals bei einem Kind, das den ganzen Tag unter Zwang einer vorgeschriebenen, niemals selbstgewählten Betätigung steht und ihre Entwicklung muss Schaden leiden, wenn aufgezwungene Beschäftigungen, seien sie geistiger oder körperlicher Natur einen zu großen Teil des Tages in Anspruch nehmen.“
Sehr guter Artikel, ich gebe Benno völlig Recht !
Ich habe des öfteren Gespräche mit älteren (>55) Leuten, und wird sind uns eigentlich alle einig, dass wir als Kinder nach heutigen Maßstäben alle ADHS hätten. Damals war es normal, dass man als Kind den ganzen Tag draussen rumtobte.
Dicke Kinder gab es auch irgendwie nicht, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Um jetzt aber schon als Kleinkind irgendwie in eine Struktur gepresst zu werden, das klingt recht grausam.
Zum Glück ist jeder anders, jeder hat andere Fähigkeiten, und die sollten Kinder entwickeln können/dürfen.